Interview: Martina Taubenberger

„Inspiration ist das Zulassen des Zwischenraums“

Räume für die Kunst erobern – und den Blick weiten: MARTINA TAUBENBERGER, Geschäftsführerin der whitebox Kultur GmbH in München, hat das Werden, Entstehen und den Wandel stets im Blick. Das Aushalten und die kreative Nutzung von Übergangszuständen sind ihr besonders wichtig.

Frau Taubenberger, gerade in Zeiten, in denen zuletzt viele Menschen im Lande die eigenen vier Wände kaum verlassen konnten und gleichzeitig die Sehnsuchtsorte immer wichtiger wurden, dürfte es sich auch für Sie besonders lohnen, über die Räume für Kunst, Kultur und Stadtentwicklung nachzudenken. Warum haben es Ihnen ausgerechnet die sogenannten Zwischenräume so angetan?

Ich sollte vor Jahren einmal einen kleinen Impulsvortrag über das Warten halten. Da wurde mir bewusst, was für eine unglaublich kostbare Haltung es sein kann, zwischen zwei Bewegungen oder Zuständen zu verharren.

Wie meinen Sie das?

Verharren – zwischen dem „Nicht-mehr“ und dem „Noch-nicht“. Wie aufregend, aber auch wie beängstigend es ist, dem, was sich daraus entwickelt, was sich entwickeln könnte (oder auch nicht), den Raum zu lassen. Dazu gehört auch das Innehalten und das Erspüren: was war da vorher. Was könnte sein? Das muss man im wahrsten Sinne des Wortes aushalten können. In gewisser Weise hat das ja tatsächlich gerade viel mit unserer aktuellen Situation zu tun. Wir leben zwischen den Räumen. Und es ist bezeichnend, dass wir das als Gesellschaft kaum aushalten. Wenn es etwas wie eine gesellschaftliche Komfortzone gibt, dann sind wir gerade meilenweit davon entfernt. Bei allem Beängstigenden und wirklich Grauenhaften, was die Pandemie mit sich bringt, sollten wir vielleicht diese Zeit mehr dazu nutzen, uns auf das zu besinnen, was uns dieser Zwischenraum anbietet an individuellen aber auch gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten.

Gemeinhin gelten weite Teile unserer Gesellschaft in der allgemeinen Wahrnehmung gerne mal als eher perfektionsverliebt, und für sie scheinen Phasen des Übergangs und Orte der Veränderung eher ungewohnt. Welchen Reiz können aber gerade im städtischen Raum das Fluide und die Zonen des Wandels ausüben?

Die Menschen haben heute in der Tat hohe Erwartungen an Freizeit- und Kulturangebote. Wir konkurrieren mit Formaten aus der Populärkultur und aus kommerziellen Bereichen. Alles muss ganz schnell „fertig“ sein, „high end“ und am besten von Anfang an erfolgreich. Sponsoren wollen Kontaktzahlen im fünfstelligen Bereich sehen, sogar Stiftungen und die öffentliche Hand bemessen den Erfolg von Projekten zunehmend an der Anzahl der erreichten Personen. Wir leben in einer Gesellschaft der Superlative; was zählt sind Ergebnisse, Erfolge, Erreichtes. Es geht immer um Ziele, um Messbares, um Kausalitäten.

Ein Denken, das schwer aus den Köpfen zu bringen sein dürfte.

Dagegen ist grundsätzlich ja auch nichts einzuwenden. Inspiration und Intuition entsteht so aber nicht. Inspiration ist das Zulassen des Zwischenraums. Als Möglichkeitsraum, in dem ein Projekt, ein Konzept, ein Gedanke potenziell in jede Richtung wachsen kann. Es geht darum, nicht jeden Raum sofort zuzumachen. Gleichzeitig liegt darin ein Paradoxon.

Das müssen Sie erklären.

Gerade wir Kulturschaffende haben ja Lust, zu verwirklichen, zu schöpfen. Das ist letztlich im Begriff der Kreativität schon angelegt. Dieses Spannungsverhältnis finde ich unglaublich elektrisierend. Sich selbst auch immer wieder dazu zu zwingen, neue Zwischenräume zuzulassen. Wenn etwas Routine wird, wenn Projekte zu Prozessen werden, dann sollten wir misstrauisch werden. Das gilt in besonderem Maße auch für den städtischen Raum. Und ich spreche hier ganz bewusst nicht von den aktuell so beliebten „Zwischennutzungskonzepten“. Das sind keine Zwischenräume, sondern Bestrebungen, frei werdende Räume sofort wieder zuzumachen, sie zu „nutzen“ und sei es nur temporär. Viel spannender sind da Entwicklungen wie sie das Gelände erlebt hat, auf dem wir mit dem Programm „Werksviertel-Mitte Kunst“ verortet sind. Ehemals Produktionsstätte für die Marke Pfanni, dann „Kunstpark Ost“, dann „Kultufabrik“, jetzt „Werksviertel-Mitte“. Insbesondere die ersten 10 Jahre nach Schließung der Pfanniwerke waren hier die eigentlich spannenden. Das waren für mich keine „Zwischennutzungskonzepte“. Das war ein nicht besetzter Raum, der ganz allmählich kreativ erobert und immer wieder neu interpretiert wurde. Da durfte wuchern, was irgendwie einen Nährboden gefunden hat.

Ein Zwischenraum kann ja auch ein Freiraum sein. Was sagt Ihre Erfahrung: Wie viel künstlerische Freiheit muss dafür gegeben sein, wo geben wichtige Rahmen und Stützen Halt?

Bleiben wir ruhig mal beim Begriff des Raums. Ein Raum ist ja ein Rahmen. Und Freiräume definieren sich nicht zuletzt auch durch ihre Grenzen. Meine Erfahrung ist, dass die totale Freiheit nicht unbedingt zur spannendsten Kunst führt. Ich kenne viele Komponisten, die sich selbst Regeln ausdenken für ihre Kompositionen, als Gerüst, in dem sie sich dann frei bewegen können. Das Prinzip der Improvisation im Jazz besteht darin, auf den immer gleichen Akkordfolgen unendliche Variationen zu kreieren. Auch der Free Jazz ist irgendwann in eine Sackgasse geraten. Wenn zu jedem Zeitpunkt alles möglich ist, dann wird es langweilig. Ich persönlich finde die Frage zeitlos spannend: Was macht dieser Musiker in diesem Moment mit dem Blues-Schema? Wo ist das Vertraute und wo das Überraschende? Wo wird der Rahmen gesprengt? Man kann keine Regeln brechen, wo es keine mehr gibt.

Wie steht es eigentlich um Ihren eigene professionelles Bedürfnis nach Verortung: Wie wichtig sind Ihnen verlässliche Strukturen – auch und gerade beim Arbeiten in den Übergängen?

Das ist eine interessante Frage. Die Veränderung und der Aufbau sind mein Motor. Man darf dabei aber auch nicht vergessen, wieviel Kraft das kosten kann. Ich denke der Begriff der Elastizität ist hier wichtig. Flexible Strukturen sind die belastbarsten, die es gibt. Man braucht Netzwerke, Verlässlichkeit, ein professionelles und aufrichtiges Umfeld, ein Team, dem man vertrauen kann. Ich bin eine wahnsinnig treue Seele, was die Menschen angeht, mit denen ich arbeite. Und dann kann kommen, was mag – da haut mich so schnell nichts um. Ich denke, das ist meine Verortung: die Beziehungen zu Kolleg*innen, Mitarbeiter*inne, Künstler*innen.

Können Zwischenräume auch eines Tages „fertig“ entwickelt sein und kommt dann notgedrungen das Kulturelle des Wandels zum Erliegen?

Auch das lässt sich gut am Beispiel des Werksviertel-Mitte beobachten. Natürlich geht dieser Raum jetzt allmählich zu. Das Gelände wird bebaut und entwickelt. Das eigentlich Spannende ist aber, dass die Zeit des kulturellen Wildwuchses dem Gelände neue Bedeutungsebenen hinzugefügt hat. Ge-Schichten. Und dass es diese Zwischenräume waren, die dem Stadtraum Identität gegeben haben und immer noch identitätsstiftend wirken.

Wie geht man mit der Perspektive eines Abschlusses um?

Es geht nicht darum, Leerstand ewig ungenutzt zu lassen, sich nie festzulegen. Zum Begriff des Zwischenraums gehört eben nicht nur das „Nicht-mehr“, sondern auch das „Noch-nicht“. Das erzeugt die Spannung. Und gleichzeitig ist jede neue Form im Moment ihrer Fertigstellung schon wieder Entwicklungen und Umdeutungen ausgesetzt. Das nächste „Nicht-mehr“ wartet sozusagen schon um die Ecke. Man kann kulturellen Wandel garnicht zum Erliegen bringen. Die Frage ist, inwieweit unsere Umgebungen, unsere Stadträume, unsere Strukturen und nicht zuletzt: unsere Kultureinrichtungen diesen Wandel widerspiegeln und aktiv gestalten. Oder ob sie versuchen, ihn zu verhindern. Das ist Erstarrung.

Was muss Ihrer Einschätzung nach geschehen, um Räume, die ihre endgültige feste Form noch nicht gefunden haben, offen und spannend halten?

Ich glaube, auch da geht es darum, genau zu beobachten, hinzuhören. Bei meinen Konzeptentwicklungen – ob es Kulturentwicklungsplanungen für Kommunen oder Regionen sind oder Konzepte für sogenannte „Konversionsflächen“ – beginne ich immer damit, viele Gespräche zu führen. Welche Beziehungen haben die Akteur*innen, Nachbar*innen, „Stakeholder*innen“ zu den Räumen? Was gibt ihnen Identität? Wo sind Brüche? Und dann muss man der Form im wahrsten Sinne auch mal den Raum geben, sich zu entfalten. Auch mal etwas ausprobieren. Und zulassen, dass nicht alles auf Anhieb funktioniert. Nicht zu viel wollen, nicht zu viel erwarten. Wenn wir nach den Besucherzahlen gegangen wären, hätten wir die whiteBOX nach einem Jahr dicht machen müssen. Das ist langsam gewachsen und wächst immer noch. Es war gut, dass wir hier keinen Druck hatten, sondern mit Formen und Formaten experimentieren konnten. Man muss die Auseinandersetzung mit dem Raum ins Zentrum stellen und nicht etwas Fertiges hineinzwängen.

Können Sie diesen Ansatz ein wenig konkreter beschreiben?

Ein schönes Beispiel ist hier übrigens auch das Heizkraftwerk in Aubing, das gerade zum Kulturort Bergson umgestaltet wird und das ich mit großem Interesse verfolge. Hier hat man sich sehr viel Zeit gelassen und auf den Raum reagiert. Bis hin zu dem Punkt, dass die Planungen um eine seltene Fledermausart herum angepasst wurden, die sich im Keller angesiedelt hat. Gerade wenn es um Stadtentwicklungen, aber auch die vermutlich durch Corona-Effekte beschleunigten soziostrukturellen Veränderungsprozesse im Miteinander geht, denkt man oft fast automatisch an große Städte. Deutschland ist aber ja durchaus von starken Stadt-Land-Kräftespiel geprägt.

Wie lassen sich kulturell spannende „Zwischenräume“, wie Sie Ihnen vorschweben, auch in der Region – platt gesprochen: auf dem platten Land – erschließen?

Dieses Spannungsverhältnis ist in der Tat äußerst interessant. Ich bin seit knapp zwei Jahren in der Lausitz tätig, habe dort mit meinem Team zunächst eine Kulturstrategie erstellt und nun als Folgeprojekt den „Kulturplan Lausitz“ im Auftrag der beiden Kulturministerien Brandenburg und Sachsen. Aus München kommend haut es einen fast um, wie viele Frei- und Gestaltungsräume es dort gibt. In Form von ehemaligen Industriestätten, aber auch in historischen Denkmälern. Hier geht es nicht darum, Räume offen zu halten, sondern Perspektiven zu schaffen, wohin sich diese freien Räume entwickeln können und sollen. Während es in den Metropolen manchmal schwer ist, den Zustand des „Noch-nicht“ hinauszuzögern, gilt es hier, darauf zu achten, dass es nicht beim „Nicht-mehr“ bleibt.

Gerade Region abseits der großen Wirtschaftsströme gelten allerdings ja nicht immer als Sehnsuchtsorte – auch nicht für Künstler: Wie kann man den Überfluss an Freiraum in solchen Gegenden kreativ nutzbar machen?

Da braucht es tatsächlich gezielte Konzepte, um Künstler*innen für diese Art der Freiräume zu begeistern. Es geht darum, durch Infrastrukturen wie z.B. Atelierhäuser, Coworking Spaces, Studio-Projekte eine Atmosphäre des fachlichen Austauschs zu schaffen. Auch Künstlerresidenzen und Austauschprogramme halte ich für eine gute Möglichkeit, Künstler*innen auf ländliche Gegenden aufmerksam zu machen. So kommen Impulse von außen in die Region, und die Gäste nehmen ein positives Bild mit, wenn sie wieder gehen. Und viele werden vielleicht auch bleiben. So viel Raum wie in den ländlichen Regionen gibt es in Städten schon lange nicht mehr. Die Fläche kann auch zum Refugium, zur Inspirations- und Kraftquelle werden. Mit Speck fängt man Mäuse. Da müssen Kommunen im ländlichen Raum schon aktiv werden.

Sie haben sich Veränderungsprozesse schon häufig für ihre eigene Arbeit zum Leitbegriff gemacht. Wie energieintensiv ist für Sie eigentlich ein Arbeiten, das sich ständig reflektiert, ja sogar permanent neu erfindet?

Das ist schon sehr energieintensiv, das stimmt. Ich habe mir schon zuweilen gedacht, warum ich eigentlich ständig Projekte mache, bei denen ich das Gefühl habe, jedes Mal wieder bei Null anzufangen. Warum ich nicht mal die Früchte der Arbeit der Vorjahre gemütlich abernte. Von klassischen Event- und Kulturmanagern werde ich auch hier und da belächelt. Man versucht dann, mir eine routinierte Abwicklung anzubieten. Aber ich bin tatsächlich allergisch gegen Routine. Ich will nicht abwickeln. Mir macht es Spaß, alle Beteiligten aus ihrer Komfortzone zu locken, inklusive mich selbst. Das ist auch oft für die Künstler*innen anstrengend, das weiß ich. Und für mein Team. Meine Mitarbeiter*innen tun mir manchmal leid, und ich überfordere sicher auch einige in meinem Umfeld. Aber wenn dann langjährige Wegbegleiter*innen zu mir sagen, dass ich sie mal wieder komplett überrascht habe – dann macht mir das schon unsäglichen Spaß.

Interview: Rupert Sommer

Kennerblick für Zwischenräume: Martina Taubenberger ist Managerin, Kulturentwicklerin und selbst Künstlerin in einer Person. Sie studierte in Bamberg, Chicago und München Amerikanistik, Anglistik und Musikwissenschaft und absolvierte als Saxophonistin ein Kompaktstudium Jazz am Freien Musikzentrum München. 2009 promovierte sie sich an der Johannes Gutenberg Universität zu „Jazz-Rezeption in Deutschland nach 1945“. Seit 2016 steuert sie Geschäftsführerin die Kunst- und Kulturprojekte im neuen Münchner Boomviertel hinter dem Ostbahnhof. Dort ließ sich auch erstmalig 2019 das Musikfestival Out Of The Box entstehen.